Die Grünen – eine Bestandsaufnahme | Brunswick Group

Robert Habeck und Annalena Baerbock, Parteivorsitzende Bündnis 90/Die Grünen, zum Start des digitalen Parteitags in Berlin, August 2020.

Die Grünen – eine Bestandsaufnahme

40 Jahre nach ihrer Gründung steht die Partei vor neuen Herausforderungen.

„Das, was ich eigentlich will, ist die Verantwortung übernehmen“, erklärte Grünen-Parteichef Robert Habeck unverblümt, als seine Partei während der ersten Monate der Corona-Pandemie oftmals zum Zuschauen aus Sicht der Opposition im Deutschen Bundestag gezwungen war. Umso wichtiger werden die kommenden Monate für die Partei und ihre großen Ambitionen. Die einstige „Anti-Parteien-Partei“ Bündnis 90/Die Grünen ist vier Jahrzehnte nach der Gründung zum festen Bestandteil des deutschen Parteiensystems geworden. Inzwischen ist sie an nicht weniger als elf von sechzehn Landesregierungen beteiligt und derzeit scheint es unrealistisch, dass nach der nächsten Bundestagswahl im September 2021 ohne ihre Beteiligung eine Bundesregierung zustande kommt.

Auch über die deutschen Grenzen hinaus konnten grüne Parteien in den vergangenen Jahren zulegen: Im Europäischen Parlament stieg die Zahl ihrer Abgeordneten bei der Wahl 2019 von 40 auf 56 und in Österreich stellen die Grünen seit Januar erstmals gemeinsam mit der Österreichischen Volkspartei die Bundesregierung. Angesichts der Corona-Pandemie fordern die Europäischen Grünen selbstbewusst, dass die Politik nicht wieder zu einem „business as usual“ zurückkehren dürfe. „Die Konjunkturprogramme müssen deshalb europäisch gedacht bzw. in Europa aufeinander abgestimmt sein, beispielsweise verknüpft über den Green Deal, damit sich alle Länder im europäischen Binnenmarkt entwickeln können“, heißt es in einem Papier der Grünen zur Bekämpfung der Pandemie-Folgen. Daher steht der Gedanke, die Bedürfnisse der kleineren und mittleren Volkswirtschaften in Europa wieder stärker zu berücksichtigen und damit auch die Wirtschaft in ganz Europa neu zu justieren. Mit der Stärkung multilateraler Zusammenschlüsse wie beispielsweise der WTO wäre aus Sicht der Grünen die Chance verbunden, die Krise für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel zu nutzen.

Bei der Europawahl 2019 stieg die Zahl der Grünen Abgeordneten von 40 auf 56.

Sind Bündnis 90/Die Grünen auf dem Weg zu einer neuen Volkspartei? Und wie viel Radikalität kann und wie viel Angepasstheit muss sich eine Partei leisten, die breitere Bevölkerungsschichten vertreten will? Fragen, die nicht über die die Zukunft der Partei selbst, sondern auch wichtige Weichenstellungen deutscher Politik entscheiden.

»Avantgarde oder angepasst?« versammelt prominente Beiträgerinnen und Beiträger wie Bundespräsident Frank Walter Steinmeier, der die Entwicklung der Grünen klar bewertet: „Die Grüne Partei hat dieses Land verändert, nicht weil sie gegen „das System“ gekämpft hat, sondern weil sie, im Respekt vor den demokratischen Regeln, den „langen Marsch durch die Institutionen“ wagte—und ganz offensichtlich heil am anderen Ende angekommen ist. Die Geschichte von Bündnis 90/Die Grünen zeigt: Wer die Demokratie verändern will, der muss sich als ihr Teil verstehen.“

Ein Jahr vor der Bundestagswahl kommt in drei Teilen unter »Im Gegenlicht« die politische Konkurrenz zu Wort, in »Im Spiegel« betrachten Grünen-Politiker ihre Partei selbst, während in »Im Profil« die Zivilgesellschaft ihren Seitenblick auf die Grünen richtet. Die Beiträge beleuchten, wo die Grünen herkommen, wie sie sich mit der Zeit verändert haben, was ihre neue Rolle sein könnte.  Dabei kommen unterschiedlichste Positionen zu Wort. Während der Kanzlerkandidat der SPD, Olaf Scholz, daran erinnert, dass die Grünen „nicht Fleisch vom Fleische der SPD“ sind, behauptet der CDU-Politiker Philipp Amthor, »die Grünen sind und bleiben eine linke Partei« und Dietmar Bartsch, Fraktionsvorsitzender der LINKE im Bundestag, hält dagegen: »Die Grünen waren nie eine originäre Linkspartei.« Ein streitbarer Band mit streitbaren Figuren.

Das Buch möchte Debatten ermöglichen, wie das extra für den Titel geführte Gespräch zwischen Luisa Neubauer und Winfried Kretschmann zeigt, dass es eine Generation gibt, die Ökologie radikaler denkt. »Avantgarde oder angepasst?« macht deutlich: Entweder prägen die Grünen die Gegenwart oder sie werden von ihr überholt.

Doch zurück zu den deutschen Grünen: Ihr heutiger Weg war nicht von Anfang an geplant oder auch nicht gewollt—weder im Zuge des sehr heterogenen und Establishment-fernen Beginns noch von den politischen Gegnern. 1983 erstmals in den Deutschen Bundestag gelangt und zunächst von den etablierten Parteien argwöhnisch beäugt sowie für nicht koalitionsfähig befunden, hatten sich die Grünen zunächst als neue Kraft im Politbetrieb zu behaupten. Mehrfach kämpften sie um den Wiedereinzug in das Deutsche Parlament. Im Frühjahr 2019 demonstrierten Hunderttausende im Zuge der „Fridays for Future“-Klimaschutzbegwegung und bis Juni verzeichneten die Umfrageinstitute einen enormen Sprung der Grünen; passenderweise im Vorfeld wichtiger Urnengänge. Die Erfolge der Partei bei der Europawahl 2019 (bundesweit 20,5 Prozent) und weiterer Wahlen, vor allem aber auch die fortwährende Debatte um den Klimaschutz als einem der grünen Kernthemen steigerten ebenso die Ambitionen in der Partei. Während mancher in der Parteispitze Mitte 2019 bei Umfragewerten von bis zu 27 Prozent schon von einem Einzug ins Kanzleramt träumen mochte, zeigte der gesunkene Zuspruch im Zuge der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020, wie wenig vorhersehbar politische Entwicklungen sind.

Auch wenn die demoskopisch durchgerüttelten Grünen ihre Rolle in Krisenzeiten und Wirtschaftsabschwung zunächst neu definieren müssen: In den kommenden Jahren ist mit ihnen an zahlreichen politischen Schalthebeln zu rechnen—von Regierungsämtern bis zu Rathäusern. Beim Bundesparteitag in Bielefeld Ende 2019 wurde der Wille der Partei zur Verantwortung—respektive zur Macht—immer wieder betont. Tenor: Man sei regierungsfähig und werbe nicht mehr nur um linke Stimmen, sondern um das bürgerliche Milieu—eine Absage an manche „utopischen“ Forderungen der Vergangenheit. Die Tatsache, dass die Grünen auf Landesebene in nicht weniger als zehn unterschiedlichen Parteienkonstellationen und—rangordnungen koalieren—von Schwarz-Grün in Hessen bis Rot-Rot-Grün als Minderheitsregierung in Thüringen—zeigt, welche Chancen und Risiken mit einer Offenheit in alle Richtungen verbunden sind.

Trotz der veränderten Ausgangslage bleibt die Ausgangssituation der Grünen für anstehende Wahlen positiv—und nach wie vor erscheint eine grüne Beteiligung an der nächsten Bundesregierung realistisch. Der Grünen-Hype des „Fridays for Future“-Jahres 2019 ist abgeflacht, den Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) spitzzüngig als „Sympathiewelle“ beschreibt, auf der die Grünen „zuletzt stark am Zeitgeist segelten“. In jedem Fall tun sich für die Grünen große Chancen auf. Nachdem mancher Einfluss von außen—von den Fridays for Future bis zu den Corona-Aufwirbelungen—auf die Partei gewirkt hat, liegt es nun an ihr selbst.

Wir wollen die Konturen einer widerstandsfähigen demokratischen Ordnung und einer krisenfesten Gesellschaft zeichnen. Daher sind wir entschlossen, das Jahr 2020 nicht nur als Krisenjahr zu sehen, sondern als Kraftzentrum für neue Perspektiven.

Dass das neue Grundsatzprogramm deutlich kürzer formuliert wurde als das Vorgängerprogramm aus dem Jahr 2002, unterstreicht den Hang zu mehr Ankopplungsfähigkeit. Hier zeigt sich der Unterschied zur einstigen „Programmpartei“, in der vor allem abgehobene Theoriedebatten stattfanden. Das beste Beispiel für den Wandel der Partei: Haderten die Grünen einst mit Technologien, werden diese inzwischen als Teil der Problemlösung betrachtet. „Wir wollen die Konturen einer widerstandsfähigen demokratischen Ordnung und einer krisenfesten Gesellschaft zeichnen. Daher sind wir entschlossen, das Jahr 2020 nicht nur als Krisenjahr zu sehen, sondern als Kraftzentrum für neue Perspektiven”, heißt es von der Partei. Das neue Grundsatzprogramm sei nicht nur für eine neue Phase für die Partei. „Es soll für den Beginn einer neuen Phase der Politik stehen, für die Politik einer neuen Epoche, in der unser Wirtschaften ins Gleichgewicht mit der Natur kommt. Eine Epoche der Kooperation, der Bündnisse und der Zusammenarbeit, der internationalen Solidarität. 2020 kann der Wendepunkt sein: Von hier an anders.“ Konkret bedeutet dies Forderungen von einer sozial-ökologischen Mobilitätspolitik, die zur einer Verkehrswende führt, bis zum Aufbau einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft, mehr Investitionen in Bildung und Digitalisierung sowie ein „neues soziales Sicherheitsversprechen“ mit solidarischen Bürgerversicherungen und „existenzsichernden Sozialleistungen“. „Dieser Entwurf ist die Antwort auf das überholte Konzept der Volksparteien“, erklärte Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner bei der Vorstellung der ersten Fassung, der derzeit in der Partei diskutiert wird.  „Er definiert uns als moderne Bündnispartei mit dem Anspruch auf Mehrheitsfähigkeit für die gesamte Gesellschaft.“ Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag, erklärt, was die ihre Partei von den politischen Wettbewerbern unterscheidet: „Die Idee des Bündnisses hat die Grünen verändert und heute vielleicht mehr Geltung denn je. Sie ist von einer historischen Selbstbeschreibung zu einem Zukunftsversprechen geworden. Die Volksparteien verlieren ihre Bindewirkung, in Deutschland und in anderen gewachsenen Demokratien erst recht. Zugehörigkeit durch Herkunft und Milieu bedeutet in einer liberalen und individualisierten Welt nicht mehr viel. Zu einem Bündnis hingegen muss man sich aktiv bekennen. Ganz nach unserem Politikverständnis von mündigen Bürgerinnen und Bürgern, die sich für ihre Interessen einsetzen und frei entscheiden, was sie wollen und mit wem sie sich zusammentun wollen. Unser Bündnis bekennt sich leidenschaftlich zu seinen Zielen—die Rettung von Umwelt und Klima, die Bewahrung unseres Planeten.“

Die Grünen-Spitze hat neuerdings nicht nur das Ziel ausgerufen, in allen Bereichen führend die politische Debatte zu treiben, sondern sie beansprucht explizit eine Führungsrolle. Das neue Selbstbewusstsein zeigt Folgen: Im Fall einer Regierungsbeteiligung auf Bundesebene will die Partei möglichst schnell ein generelles Tempolimit von 130 Kilometern pro Stunde auf deutschen Autobahnen durchsetzen. Es dürften bald weitere Pläne folgen, etwa eine Zusatzabgabe für mehr Tierwohl. Die Zeit bis zur Bundestagswahl sowie die Reaktionen der Wählerinnen und Wähler versprechen spannend zu werden.

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Michael Wedell ist Partner bei Brunswick in Berlin. Zuvor war er 10 Jahre bei der METRO AG tätig, wo er zuletzt den Bereich Unternehmenskommunikation und Politik leitete. Davor war er als Director Corporate Affairs bei der Dresdner Bank und als Leiter Public Affairs and Government Relations bei Vodafone Deutschland tätig. Zusammen mit dem Publizisten Georg Milde ist er Herausgeber des derzeit erscheinenden Essaybandes über die Grünen „Avantgarde oder angepasst? Die Grünen - eine Bestandsaufnahme“

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